17.05.2019

Mitgliedstaaten müssen die Arbeitgeber zu Zeiterfassungssystem verpflichten

Urteil des Europäischen Gerichtshofs

Bild: Shutterstock – Andrey_Popov / ArGe Medien im ZVEH

Die europäischen Mitgliedstaaten müssen Arbeitgeber verpflichten, ein System einzurichten, mit dem die tägliche effektiv geleistete Arbeitszeit der Arbeitnehmer gemessen werden kann. Das entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit Urteil vom 14. Mai 2019 (Az.: C-55/18) und verwies darauf, dass nur auf diese Weise der Schutzzweck der EU-Arbeitszeitrichtlinie umfassend gewährleistet werden könne.

Sachverhalt
Die spanische Gewerkschaft CCOO hatte vor dem Nationalen Gerichtshof (Spanien) eine Verbandsklage gegen die Deutsche Bank SAE eingereicht, mit der sie die Feststellung der Verpflichtung begehrte, ein System zum Erfassen der von den Arbeitnehmern geleisteten täglichen Arbeitszeit einzuführen. Die Pflicht ergebe sich aus Sicht der CCOO aus der Auslegung von Art. 34 und Art. 35 des spanischen Arbeitnehmerstatuts in Verbindung mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Die Beklagte machte demgegenüber geltend, dass der Oberste Gerichtshof (Spanien) bereits entschieden habe, dass es im spanischen Recht keine allgemeine Verpflichtung gebe, die Regelarbeitszeit aufzuzeichnen. So verpflichte Art. 35 Abs. 5 Arbeitnehmerstatut lediglich zur Führung einer Liste der geleisteten Überstunden und zur Mitteilung der Zahl der gegebenenfalls von den Arbeitnehmern geleisteten Stunden am Ende jeden Monats an ihre Gewerkschaftsvertreter.

Der Nationale Gerichtshof hatte Bedenken, ob die Auslegung des spanischen Rechts durch den Obersten Gerichtshof mit dem Unionsrecht vereinbar ist. Nach Ansicht der Richter des Nationalen Gerichtshofs könne das spanische Recht die Einhaltung der in der EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen Verpflichtungen nicht gewährleisten. In der Folge legte das Gericht den Rechtsstreit dem EuGH zur Vorabentscheidung vor und stellte dabei die Frage, inwieweit die Auslegung von Art. 34 und Art. 35 des Arbeitnehmerstatuts mit der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar sei.

Entscheidungsgründe
Nach den Feststellungen des EuGH ist die EU-Arbeitszeitrichtlinie dahingehend auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, die nach ihrer Auslegung durch die nationalen Gerichte die Arbeitgeber nicht dazu verpflichtet, ein System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann.

Zwar verlange die EU-Arbeitszeitrichtlinie nicht die Normierung konkreter Maßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten die Umsetzung der in der Richtlinie vorgesehenen Rechte sicherstellen müssten. Vielmehr seien die Mitgliedstaaten frei, die „erforderlichen Maßnahmen" zu treffen. Auch wenn die Mitgliedstaaten daher zu diesem Zweck über einen gewissen Spielraum verfügten, müssten sie angesichts des von der EU-Arbeitszeitrichtlinie verfolgten Zwecks, einen wirksamen Schutz der Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmer zu gewährleisten, sicherstellen, dass die praktische Wirksamkeit dieser Rechte in vollem Umfang gewährleistet würden. Daraus folge, dass die von den Mitgliedstaaten festgelegten Modalitäten zur Sicherstellung der Umsetzung der EU-Arbeitszeitrichtlinie nicht zu einer Aushöhlung der Arbeitnehmerrechte führen dürften.

Vor dem Hintergrund dieser Vorgaben kommt der EuGH zu dem Ergebnis, dass ohne ein System, mit dem die tägliche Arbeitszeit eines jeden Arbeitnehmers gemessen werden kann, weder die Zahl der vom Arbeitnehmer tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden und ihre zeitliche Verteilung, noch die Zahl der Überstunden objektiv und verlässlich ermittelt werden könnten. Unter diesen Umständen sei es für die Arbeitnehmer äußerst schwierig, wenn nicht gar praktisch unmöglich, ihre Rechte aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie durchzusetzen.

Die objektive und verlässliche Feststellung der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit sei für die Feststellung, ob die wöchentliche Höchstarbeitszeit einschließlich der Überstunden sowie die täglichen und wöchentlichen Ruhezeiten eingehalten worden seien, unerlässlich.

Ohne die Verpflichtungen zur Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit könnten die in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und in der EU-Arbeitszeitrichtlinie vorgesehenen Schutzrechte nicht umfassend gewährleistet werden. Denn weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer könnten überprüfen, ob diese Rechte beachtet würden. Ohne Erfassung der täglichen Arbeitszeit würde das Ziel der EU-Arbeitszeitrichtlinie, nämlich den Schutz der Sicherheit und Gesundheit der Arbeitnehmer, gefährdet. Ein Arbeitszeiterfassungssystem stelle daher für Arbeitnehmer ein wirksames Mittel, um an objektive und verlässliche Daten über die tatsächlich geleistete Arbeitszeit zu gelangen. Es erleichtere überdies die Kontrollen der zuständigen Behörden und nationalen Gerichte, ob diese Rechte tatsächlich beachtet werden.

Letztlich sei es Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Arbeitgeber zu verpflichten, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzurichten, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden könne. Nur auf diese Weise könne die vorgesehene Schutzwirkung der EU-Arbeitszeitrichtlinie und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu ihrer vollen Wirkung gelangen.

Die Ausgestaltung der konkreten Modalitäten zur Umsetzung eines solchen Systems, insbesondere dessen Form, und die eventuelle Berücksichtigung von Besonderheiten einzelner Tätigkeitsbereiche oder Eigenheiten oder sogar der Größe bestimmter Unternehmen lägen in der Hand der Mitgliedstaaten.

Bewertung / Folgen der Entscheidung
Das EuGH-Urteil ist ernüchternd und stellt gerade im Zeitalter der Digitalisierung und der damit verbundenen Notwendigkeit nach einer Flexibilisierung der Arbeitswelt einen drastischen Rückschritt dar.

Es ist nicht auszuschließen, dass den Arbeitgebern mit der Entscheidung des EuGH neue Pflichten zur Arbeitszeitdokumentation auferlegt werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bereits nach der derzeitigen nationalen Gesetzeslage ein umfassender Rechtsrahmen zur Arbeitszeitaufzeichnung existiert, sei es nach dem Mindestlohngesetz, dem Arbeitnehmer-Entsendegesetz oder dem Arbeitszeitgesetz. Die daraus resultierenden Dokumentationspflichten bedeuten für die betroffenen Betriebe schon jetzt einen deutlichen Mehraufwand. Eine Ausweitung der Arbeitszeiterfassung auf sämtliche Arbeitnehmer aller Branchen würde die Bürokratielasten, gerade auch für kleine und mittlere Unternehmen, erheblich erhöhen und könnte unter Umständen auch das Aus vieler flexibler Arbeitszeitabreden, wie etwa der Vertrauensarbeitszeit, bedeuten. Immerhin steht die Entscheidung des EuGH nicht der Möglichkeit entgegen, die Aufzeichnung der Arbeitszeit an die Beschäftigten zu delegieren. Auch ist darauf hinzuweisen, dass sich aus der EU-Arbeitszeitrichtlinie – mit Ausnahme des bezahlten Mindestjahresurlaubs – keine Schlussfolgerungen auf vergütungsrechtliche Regelungen ziehen lassen. Die Richtlinie regelt im Kern ausschließlich Fragen von Höchstarbeitszeiten, Ruhezeiten und Ruhepausen.

Dem Auftrag des EuGH folgend, sind nun die Mitgliedstaaten in der Pflicht zu prüfen, ob und welche konkreten Modalitäten zur Umsetzung der EuGH-Entscheidung in nationales Recht erforderlich sind. Anknüpfend an die Ausführungen des EuGH, dass auch die Größe der Unternehmen bei der Ausgestaltung nationaler Arbeitszeitregelungen berücksichtigt werden kann, wird sich der ZDH gegenüber der Politik dafür einsetzen, dass eventuell drohende Bürokratielasten vor allem für kleine und mittlere Handwerksbetriebe möglichst gering gehalten werden.


Quelle: ZDH